Koalitionsvertrag – Und jetzt?

Mit 84 % Zustimmung hat die SPD gestern den Koalitionsvertrag bestätigt – allerdings bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von nur 56 %. Es war die geringste Wahlbeteiligung einer Urabstimmung zu einem Koalitionsvertrag, seit die SPD diese durchführt. Im Vorfeld hatten Jusos und andere Stimmen innerhalb der Partei aufgerufen gegen den Vertrag zu stimmen.

Koalitionsvertrag – Und jetzt?

Schon im ersten Satz des knapp 150 Seiten langen Dokuments wird von historischen Herausforderungen gesprochen und dass die Politik der nächsten Jahre maßgeblich darüber entscheiden werde, wie die Zukunft aussehen wird – so weit, so richtig. Weltweit vermehren sich Kriege und Krisen, in immer mehr Ländern gelangen rechte Kräfte an die Macht, die globale Erwärmung befindet sich auf Rekordniveau, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Doch statt Antworten auf diese Krisen zu geben, hält der Koalitionsvertrag an alten Rezepten fest – ein unbeirrtes ‚Weiter so‘. Und steuert sogar noch direkter Richtung Abgrund.

Im Koalitionsvertrag zeichnet sich das Bild eines Staates ab, der neoliberale Wirtschaftsinteressen, mehr Überwachung und militärische Stärke in den Vordergrund stellt. An welchen Forderungen machen sich diese Schlagrichtungen fest, wie ist der Zeitplan bis eine neue Regierung steht und wie sieht die „Verantwortung für Deutschland“ aus? Der Artikel will diese Fragen beantworten.
Ein Blick auf die wirtschaftspolitischen Pläne zeigt, wohin die Reise gehen soll.

Deutschland soll weiterhin eine Industrienation und „Mittelstandsland“ bleiben. Dafür sollen weitere Handelsabkommen geschlossen, das Lieferkettengesetz ausgesetzt sowie Regulierungen und Berichtspflichten für Unternehmen verringert werden.
Gleichzeitig soll die Industrie von niedrigeren Stromkosten, umstrittenen CO₂-Speicherungsmethoden und Wasserstofftechnologie profitieren – besonders die Stahl- & Chemieindustrie soll gefördert werden. Das ausgerufene Ziel ist es, ein Potentialwachstum von 1% des BIP für die Gesamtwirtschaft zu erreichen. Zudem will man „KI- und Gründernation“ werden. Dafür soll die Verwaltung digitalisiert werden und alle Verwaltungsleistungen sollen über eine Plattform zugänglich, Rechenzentren und eine „AI-Gigafactory“ angesiedelt werden. Es soll eine europäische Satelliteninfrastruktur aufgebaut werden.

Statt des Bürgergelds soll eine verschärfte „Neue Grundsicherung“ greifen, die stärker auf Sanktionen und schnelle Arbeitsaufnahme setzt. Damit steht die Vermittlung von Arbeit wieder im Zentrum der Unterstützung für Erwerbslose.
Der Mindestlohn soll weiterhin durch eine unabhängige Kommission empfohlen werden, eine Erhöhung auf 15 € ab 2026 sei erreichbar. Bereits nach der Veröffentlichung des Vertrages bemerkte Merz aber, dass diese Forderung nicht unumstößlich sei. Auch in anderen Bereichen wie der Entwicklungshilfe möchte man kürzen. Ein ähnliches Vorgehen von Trump bringt aktuell humanitäre Missionen Weltweit in Bedrängnis.

Das Grundrecht auf Asyl soll zwar formal bestehen bleiben – doch mit dem Stopp der Aufnahmeprogramme und Einschränkungen beim Familiennachzug verschwinden viele legale Zugangswege. Der neue CDU-Kanzleramtschef Thorsten Frei kündigte zudem an, dass ab dem 6. Mai Asylsuchende gegen geltendes Recht einfach an der deutschen Grenze abgewiesen werden sollen. Ein Zugang zu dem formal noch bestehenden Grundrecht auf Asyl soll also weitgehend verhindert werden. Gleichzeitig sollen Abschiebungen forciert werden. Festgehalten wird an EU-Richtlinien, wie der verschärften GEAS-Reform und dem Fachkräfteabkommen – zukünftig wird also noch stärker zwischen „nützlicher“ und „ungewollter“ Migration unterschieden.

Wer kontrollieren will, muss auch aufrüsten – so scheint die neue Regierung zu denken.

Bereits im Vorwort des Vertrags wird ein Szenario aufgezeichnet, dass Deutschland im Inneren und Äußeren von Feinden bedroht ist. Die Antwort der neuen Regierung darauf soll eine innere Aufrüstung und ein offensiveres Nachaußentreten sein. Diskutiert wird auch eine staatliche Beteiligung an Rüstungsunternehmen – auch Autofabriken könnten künftig für die Waffenproduktion umgenutzt werden.

Auch die angekündigte Förderung von Stahl und Chemie sollte im Kontext einer Militärwirtschaft betrachtet werden. Neben der Förderung der Rüstungsproduktion soll auch der Export von Rüstungsgütern vereinfacht werden und Kontrollen nur noch stichpunkthaft durchgeführt werden.

Im Kanzleramt soll ein „Nationaler Sicherheitsrat“ aufgebaut werden. Dieser soll die Koordinierung, Planung und Organisierung der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ übernehmen. Diese soll in diesem Zuge ausgeweitet werden. Dieses Gremium, das bislang so in Deutschland noch nicht existiert, könnte eine der mächtigsten Stellen der neuen Regierung werden.

Nach der Zeitenwende, die Olaf Scholz 2022 ausrief, soll der Koalitionsvertrag nun auch der Startschuss für eine „Zeitenwende im Inneren“ sein: Ein Ausbau der Überwachung bis an verfassungsrechtliche Grenzen ist geplant – da SPD und Union sogar die Vorratsdatenspeicherung einführen wollen, könnte diese sogar überwunden werden.

IP-Adressen aller Internetnutzer sollen damit anlasslos drei Monate gespeichert werden, Kennzeichen sollen aufgezeichnet und automatisiert ausgewertet werden, sowie die Videoüberwachung an öffentlichen Orten ausgebaut werden.
Zudem soll auch die Bundespolizei Zugriff auf die Quellen-TKÜ – den sogenannten „Staatstrojaner“ – erhalten. Erweitert wird die Liste der Überwachungsmaßnahmen durch einen massenhaften „biometrische[n] Abgleich mit öffentlich zugänglichen Internetdaten“ – also auch Bildern aus Instagram und Facebook – mittels KI, während gleichzeitig gesammelte Daten leichter zwischen den Behörden geteilt werden können.

Polizei und Geheimdienste sollen ihre Datenmengen automatisiert recherchieren und analysieren können – Hessen, NRW & Bayern nutzen hierfür schon jetzt eine datenrechtlich umstrittene Software vom US-Konzern Palantir.

Nachdem die SPD den Koalitionsvertrag nun angenommen hat, wird es nun zu einem klassischen Prozess: Am Montag soll der Koalitionsvertrag offiziell unterschrieben werden. Am Dienstag soll der neue Bundeskanzler Friedrich Merz gewählt werden. Daraufhin müssen der Bundeskanzler und die Bundesminister:innen noch vom Bundespräsidenten vereidigt werden.

Auch die SPD-Minister:innen sollen am Montag bekannt gegeben werden. Bisher ist bekannt, dass Lars Klingbeil Vizekanzler und Finanzminister werden soll. Die Union hat ihre Minister:innen und Staatssekretär:innen bereits bekannt gegeben.

Bei der CDU: Johann Wadephul (Außen), Katherina Reiche (Wirtschaft), Karin Prien (Bildung), Nina Warken (Gesundheit), Patrick Schnieder (Verkehr), Karsten Wildberger (Digitalisierung), Thorsten Frei (Kanzleramtschef). Die CSU hat Alexander Dobrindt (Innen), Dorothee Bär (Digitalisierung) und Alois Rainer (Landwirtschaft) benannt. Die SPD stellt die Minister:innen für Justiz, Arbeit und Soziales, Verteidigung, Familien, Umwelt, Entwicklung und Bau. Wenn ihr mehr über die Disskusionen über die Minister:innen erfahren wollt, hört am Freitag in die Neue Folge „Durchblick“.

Nächste Woche wird Friedrich Merz also aller Voraussicht nach Bundeskanzler sein. Wo der Koalitionsvertrag eine Light-Version des AfD-Programms ist, sind Merz‘ Nominierungen für die Ministerien ein Light-Version vom Kabinett Donald Trumps. Dieser Koalitionsvertrag ist der Startschuss für vier Jahre Kürzungen, Kontrolle und Konzernförderung. Sozialstaat und Asylrecht werden abgebaut, während Polizei, Überwachung und Militär gestärkt werden. Statt sozialen, ökologischen & friedensorientierten Lösungen setzt die Regierung auf Repression, Technologiewetten und Abschottung. Wer hier noch von Aufbruch spricht, meint vor allem den nach rechts. „Verantwortung für Deutschland“ tragen im Endeffekt wieder dieselben Menschen, die seit jeher unter dieser Politik leiden.

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